Christian Fürchtegott Gellert
"Dem, der nicht viel Verstand besitzt, die Wahrheit durch ein Bild zu sagen." Fabeldichter Christian Fürchtegott Gellert zum 300. Geburtstag
Der große deutsche Aufklärungsphilosoph und -schriftsteller Christian Fürchtegott Gellert feierte dieses Jahr 300. Geburtstag.
Als Vorschlag für Leseabende im Dezember seien hier seine Fabeln hervorgehoben. Denn bereits mit seinen frühesten, die weithin als Meisterstücke gelobt wurden, erfährt der junge Dichter große Berühmtheit. Sogar als "Buch der Nation" wird die 1746 veröffentlichte Fabelsammlung gepriesen. Durch seine lockere und unterhaltsame Erzählweise setzt er sich darin einerseits von seinen Vorgängern ab, welche in Literatur vorrangig handwerklich standardisierte, poetische Gebrauchstexte sahen.
Andererseits konnte er eine breitere Leserschaft erreichen und die Gellert'schen "Fabeln und Erzählungen" avancierten so zu einem der meistgelesenen Bücher seiner Zeit. Selbst wer nicht lesen konnte, vernahm die Geschichten durch Hörensagen und auch Frauen gehörten zum festen Rezipientenkreis. Ein leichter-fließender Schreibstil, entwachsen aus einer ursprünglichen Natürlichkeit, entsprach einer neuen Poetologie, in der sich seiner Meinung nach die "Vortrefflichkeit des Genies" am besten zeige.
In dieser Frühphase gehört er damit zu den Wegbereitern für Stürmer und Dränger. Dazu bedurfte es zunächst der Klärung und Aufwertung des geschriebenen Wortes und seines Urhebers innerhalb der Gesellschaft. So ist es nicht verwunderlich, dass viele der 54 Fabeln aus dem ersten Buch das Gefüge von Dichtung, Poet und Leserschaft thematisieren. Tiercharaktere spiegeln den Menschen, und so kann die Biene in "Die Henne und die Biene" autorengleich von Blüte zu Blüte fliegen, aus verschiedenen Quellen schöpfen, und dennoch etwas Individuelles, Innovatives und Nutzbringendes schaffen. Mehr noch, dem Fabeldichter komme sogar eine soziale Lehrfunktion zu: "Dem, der nicht viel Verstand besitzt, die Wahrheit durch ein Bild zu sagen."
Die Rolle des Dichters ist also untrennbar mit der Rolle des Erziehers verbunden. Ein anderes Symbol, das sich Gellert als tierisches Spiegelbild erwählt, ist die Nachtigall, womit er einer in der Antike begründeten Tradition folgt. Der Singvogel wird bei altgriech. Lyrikern als ein dem mächtigen Habicht unterlegenes Opfer eingeführt, dennoch schafft es die Nachtigall mittels ihrer weithin vernehmbaren Stimme sich zumindest ideell gegen die Unterwerfung zu behaupten und wird so zum moralischen Vorbild bzw. Sprachrohr der Erzähler. Einerseits formt Gellert die antike Vorlage um und passt sie an den aufklärerischen Zeitgeist an, was teilweise auch mit der Verharmlosung des Urstoffes einher geht. Andererseits erfindet er Stoffe und Motive neu, welche er aus seiner natürlichen Umgebung entnimmt: der deutschen Alltagswelt. Zugunsten einer Vernunftbildung der Gesellschaft ging so zwar ein Vielfaches an Mehrdeutigkeit und Sinnlichkeit der mytholog. Grundsubstanz verloren. Aber Gellert kompensiert diesen Verlust, indem er seine Fabeln um den Kanon der Zeit herum konzeptionell paar- bzw. gruppenweise anordnet und diese sich in ihrer Reihenfolge aufeinander beziehen.
Zudem spickt er sie mit Leitmotiven: so lässt er bspw. an wichtigen Stellen die Nachtigall (= Gellert selbst) sprechen, wodurch sich die Sammlung zu einem sinnstiftenden Großtext verwebt. Werte will er vermitteln, wie z.B. dass Talent allein nicht reiche; nur die Ausformung durch harte Arbeit macht das Genie. Ebenso nutzt er das Stilmittel der Satire, um leise Kritik an der Gesellschaft zu üben.
Er plädiert für das natürliche und bürgerliche Leben, entlarvt den schönen Schein des Adels, der sich mit teurer Kleidung maskiert und seinen ureigenen Freiheitswillen für hohe Ämter und einen aufgezwungenen Regelkanon aufgibt. Außerdem moniert er das noch weitverbreitete Festhalten am Aberglauben, heuchlerische Frömmelei, Geiz oder Streitsucht. Oft spiegeln sich die extremen Charakterzüge der Protagonisten innerhalb ihrer Versuchsanordnung.
Gellert zeigt damit, dass er sich einer dunklen und einer hellen Seite, sowohl im öffentlichen als auch im individuellen Raum, bewusst ist, er fordert jedoch ein harmonisches Abwägen beider Prinzipien mittels der rationellen Vernunft, die er durch Literatur als Medium bestmöglich vermittelt sieht.
Doch nicht nur im geschriebenen Wort oder in mündlicher Erzählung wurde der Fabelstoff weitergetragen, sondern auch kraft der Vertonung. Bereits kurz nach Erscheinen der Sammlung werden die Texte musikalisch aufbereitet.
Die Autorenrolle erfährt dank Gellerts Dichtung eine neue Tiefendimension, gleichzeitig formt sich ein neues Selbstverständnis des Bürgertums: Emanzipation, Selbstbestimmung und Individualität. Gellerts Leitbild als Reformer in den Bereichen der Sittlichkeit und Moral ist dabei ständeübergreifend, es richtet sich an jeden Einzelnen, ungeachtet seiner Stellung.
Die Güte seiner Fabelsammlungen liegt also einerseits in der alltäglichen Anschaulichkeit mit hohem Wiedererkennungs- und Identifikationswert, andererseits in dem komplexen Anordnungsgeflecht der Aufwertung von Literatur und Poet, Erziehungsmoment und versteckter Gesellschaftskritik.
Signifikant für deren Qualität waren nicht zuletzt die bereits im 18. Jahrhundert erschienenen Übersetzungen in mehrere Fremdsprachen in ganz Europa und darüber hinaus.
Und auch heute ist es lohnend, sie wiederzuentdecken.
Maren Gündel, Stadtarchiv
Erschienen in: Amtsblatt Radebeul, Dezember 2015